- polyphone Kunst und Textdarstellung
- polyphone Kunst und TextdarstellungGrundlage aller geistlichen und weltlichen Musik der frankoflämischen Schule war das Prinzip der Vokalpolyphonie. Vokalität und kontrapunktische Satzkunst verbinden sich in ihr zu einer für die Epoche charakteristischen Stilsynthese. Das Element des Vokalen, die Sangbarkeit, steht hierbei für eine in der Kunstmusik neuartige, unmittelbare Orientierung an den Gegebenheiten der menschlichen Stimme; das kontrapunktisch polyphone Element verweist auf die selbstständige Führung der einzelnen Linien und ihren streng regulierten intervallisch harmonischen Bezug zueinander.Der Umfang und mögliche Tonvorrat der Stimmen ist gering, sie bewegen sich fast nur in bequemen Mittellagen. Sekundschritte sind der Normalfall. Größere Intervalle werden nachträglich sekundmäßig ausgefüllt, womit die Spannungsenergie etwa eines Aufwärtssprungs durch gleitende Abwärtsbewegungen aufgefangen wird. Unsangliche übermäßige oder verminderte Intervalle, Septimen und - mit seltenen Ausnahmen - große Sexten kommen überhaupt nicht vor. Die einzelne Linie verläuft in ruhigen, organischen Wellenbewegungen. Das gilt für die Tonhöhen ebenso wie für die Rhythmen. Am Beginn einer Phrase stehen längere Notenwerte, die allmählich zu kürzeren übergehen und zu längeren zurückkehren. Pausen trennen Atembögen und Sinneinheiten und werden nur gelegentlich zu expressiven Unterbrechungen benutzt. Auch der Gesamtklang entfaltet und differenziert sich allmählich und schwingt an Schlüssen in einfachen Akkorden wieder aus.Diese Entfaltung des Vokalklangs geschah seit dem späten 15. Jahrhundert in der Regel durch das Mittel der Imitation. Die Stimmen ahmen einander nach, sie setzen, eine der anderen antwortend, mit gleichen oder ähnlichen Motiven ein, während die Fortsetzung in jeder Stimme anders verlaufen kann. In der variablen Anwendung dieses Imitationsprinzips, das die selbstständigen Stimmen zugleich aufeinander bezieht, realisiert sich die Grundidee des kontrapunktischen Zusammenhangs im frankoflämischen Vokalstil. Das bedeutet nicht, dass die Stücke nur gesungen wurden. Die Beteiligung von Instrumenten war sogar der Normalfall, wobei alle Stimmen instrumental verstärkt oder einige Stimmen gesungen, andere gespielt wurden. In den Kapellen waren daher immer Sänger und Instrumentalisten vertreten. Nur die päpstliche Kapelle in Rom beschränkte sich auf die rein vokale Ausführung.Polyphone Kunst dieser Art zeigt gelegentlich das Streben nach besonderer Künstlichkeit der Erfindung und der Zusammenfügung. Beliebt und nahe liegend war es, über das Imitationsprinzip hinausgehend Linien im strengen Kanon zu führen. Die kanonisch geführten Stimmen konnten auch auf verschiedenen Intervallstufen einsetzen (im Kanon der Sekunde, der Terz, der Quarte und so weiter) oder in abweichenden Metren stehen (eine Stimme im geraden Takt, eine im ungeraden, aber mit den gleichen Tönen) oder sogar unterschiedliche Notenwertrelationen aufweisen, also im Verhältnis der Vergrößerung (Augmentation) oder Verkleinerung (Diminution) einander folgen. Bei Beachtung aller kontrapunktischen Regeln der Stimmfortschreitung und des Zusammenklangs bedeutet dies eine eminente satztechnische Leistung.Allerdings waren besonders komplexe Stimmanordnungen und -kombinationen aufs Ganze des Zeitraums gesehen eher eine periphere Erscheinung. Zentral dagegen und für die weitere Geschichte der Musik von fundamentaler Bedeutung war das in der Vokalpolyphonie angelegte Prinzip der Textdarstellung, die enge Zuordnung und wechselseitige Bestimmung von Wort und Ton. Den ersten Höhepunkt dieser Entwicklung bildeten die Werke von Josquin Desprez, Abschluss und Vollendung die von Orlando di Lasso und Palestrina.Hierbei ist das Wort-Ton-Verhältnis unter dem klanglich deklamatorischen und dem inhaltlich semantischen Aspekt zu betrachten, auch wenn beide zumeist zugleich in Erscheinung treten. Deklamatorische Textdarstellung besagt, dass eine musikalische Phrase melodisch und rhythmisch der Sprachmelodie und der Betonung der Worte angepasst beziehungsweise aus ihnen entwickelt wird. Inhaltlicher Textbezug hebt den Sinn des Textes durch besondere musikalische Wendungen hervor. Das geschieht teils auf ganz einfache Weise, teils stärker verschlüsselt und nur für Kenner verständlich. Einfache Beispiele finden sich bei der direkten musikalischen Übertragung von Orts-, Bewegungs- und Richtungsbegriffen wie »Höhe«, »Tiefe«, »Aufsteigen«, »Herabsteigen«, »Laufen«, »Innehalten« und dergleichen. Oft jedoch greift die gedankliche oder affektbezogene Ausdeutung des Textes auf subtilere Sinnassoziationen der Worte zurück. Sie verwendet dabei alle damals möglichen Kompositionsmittel: Wechsel des Metrums und des Tempos, Häufung langer oder kurzer Notenwerte, melismatische oder syllabische Textierung, Wiederholung gleicher Töne oder Motive, ungewöhnliche Intervallfolgen und auffällige Strukturen des ganzen Satzes, zum Beispiel Klangkontraste, Zäsuren oder homophone Einschübe in den polyphonen Kontext. Auch Zahlensymbolik (etwa die Drei als Symbol der Dreieinigkeit) oder Anspielungen durch die Analogie zu Tonnamen (ut, re, mi, fa, sol, la) können eine wichtige Rolle spielen. Später, in der deutschen Musiktheorie des Barock, sind Text ausdeutende Mittel dieser Art als »Figuren« - das sind auffällige Wendungen innerhalb des normalen Satzes - bezeichnet worden. In Anlehnung an die Redekunst wurden sie ab etwa 1600 systematisiert und in Traktaten gelehrt. Die Beispiele in diesen Lehrbüchern stammen überwiegend aus Werken von Josquin, Lasso und ihren Zeitgenossen, was auf die hohe Wertschätzung dieser Musik gerade auch im Hinblick auf ihre Kunst der Textdarstellung verweist.Prof. Dr. Peter SchnausBossuyt, Ignace: Die Kunst der Polyphonie. Die flämische Musik von Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso. Aus dem Flämischen. Zürich u. a. 1997.
Universal-Lexikon. 2012.